Der Brief von Winston Churchill an General Ismay
vom 06. Juli 1944 wurde mit dem Ziel verfasst, um noch einmal die Erfolgsaussichten eines Kampfstoffeinstzes detailliert durch die Stabschefs überprüfen zu lassen. Da es sich hierbei um ein bemerkenswertes einmaliges Dokument handelt soll es hier übersetzt wiedergegeben werden.

Sir Winston Leonard Spencer-Churchill (* 30. November 1874 in Woodstock (England); †24. Januar 1965 inLondon) gilt als bedeutendster britischer Staatsmann des 20. Jahrhunderts. Er war zweimal Premierminister und führte Großbrittannien durch den Zweiten Weltkrieg. Zuvor hatte er bereits mehrere Regierungsämter bekleidet, unter anderem das des Ersten Lords der Admiralität, des Innen- und des Finanzministers.

Der Brief von Winston Churchill an General Ismay vom 06. Juli 1944:

  1. Ich wünsche, dass Sie sehr ernsthaft über das Problem einer Gasanwendung nachdenken. Ich würde es nicht einsetzen, sofern es nicht nachweisbar ist, a) dass es für uns um Leben oder Tod geht oder b) dass der Krieg hierdurch um ein Jahr verkürzt werden könnte.

  2. Es ist absurd, dieses Thema von der moralischen Seite her zu betrachten, da es im letzten Krieg jeder, ohne irgendeinen Einspruch der Moralisten oder der Kirchen, eingesetzt hat. Andererseits betrachtete man die Bombardierung ungeschützter Städte im letzten Krieg als nicht erlaubt. Jetzt tut jeder so, als ob es sich hierbei um eine Selbstverständlichkeit handeln würde. Es ist einfach eine Frage der Mode, die hier genauso wechselt, wie zwischen langen und kurzen Frauenröcken.

  3. Ich wünsche, dass eine kaltblütige Einschätzung darüber vorgenommen wir, ob es günstig für uns wäre, Giftgas einzusetzen, wobei ich hauptsächlich an Senfgas denke. Wir wollen in der Normandie Boden gewinnen und nicht in die Enge getrieben werden. Wir könnten gegenüber ihrer einen Tonne, wahrscheinlich zwanzig Tonnen einsetzen und wegen ihrer einen Tonne müssten sie bei unserer Luftüberlegenheit ihre Kampfflugzeuge in dieses Gebiet schicken, wobei sie einen hohen Preis zahlen müssten.

  4. Warum haben es die Deutschen nicht eingesetzt? Bestimmt nicht wegen moralischer Bedenken oder aus lauter Liebe zu uns. Sie haben es nicht verwendet, weil es sich für sie nicht lohnt. Die größte Versuchung, die je an sie herangetragen ist, war ein Einsatz an der Küste der Normandie. Sie hätten diese Strände zur Behinderung unserer Truppen in sehr starkem Maße durchtränken können. Dass sie daran gedacht haben, muss als sicher unterstellt werden, dass sie sich auf einen Kampfstoffeinsatz unsererseits vorbereitet haben, ist auch sicher. Der einzige Grund dafür, dass sie es nicht gegen uns eingesetzt haben, besteht in ihrer Furcht vor unseren Vergeltungsmaßnahmen. Was für sie von Nachteil ist, dürfte unser Vorteil sein.

  5. Obwohl bekannt ist, wie unangenehm es ist, Gasangriffen ausgesetzt zu sein, von denen sich fast jeder wieder erholt, erübrigt es sich zu beteuern, dass eine gleiche Menge an hochexplosiven Sprengstoff den Soldaten und Zivilisten keine schlimmeren Grausamkeiten und Leiden zufügen kann. Man muss nun wirklich nicht an die dummen Konventionen des Denkens gefesselt fühlen, ganz gleich, ob es diejenigen sind, die im letzten Krieg vorherrschten, oder die entgegengesetzten, die jetzt vorherrschen.

  6. Falls die Bombardierungen Londons wirklich zu einer ernsten Plage werden und Raketen mit weitreichenden und verheerenden Auswirkungen auf viele Regierungs- und Arbeitszentren niedergehen sollten, so müsste ich darauf vorbereitet sein, alles (durch Churchill unterstrichen, d. Verf.) zu unternehmen, was den Feind am empfindlichsten treffen würde. Ich muss Sie natürlich darum bitten, mich bei der Anwendung von Gas zu unterstützen. Wir könnten die Städte an der Ruhr und viele andere Städte Deutschlands derart überschütten, dass der größte Teil der Bevölkerung eine Ständige medizinische Behandlung benötigt.
    Wir könnten sämtliche Aktivitäten an den Abschussbasen der fliegenden Bomben zum Erliegen bringen. Ich sehe nicht ein, warum wir immer die ganzen Nachteile des Gentleman in Kauf nehmen sollen, während sie sich der ganzen Vorteile des Schurken erfreuen. Es gibt Zeiten, in denen man so sein darf, aber nicht jetzt.

  7. Ich bin völlig damit einverstanden, dass es einige Wochen, sogar Monate dauern kann, bis ich sie bitten werde, Deutschland mit Giftgas zu durchtränken, und wenn wir dies tun, dann sollte es hundertprozentig sein. Ich wünsche, dass die Angelegenheit in der Zwischenzeit von vernünftigen Leuten kaltblütig durchdacht wird, und nicht von diesen psalmodierenden uniformierten Defätisten, die einem hin und wieder über den Weg laufen …

6.7.44   W. C.